Biographie Deutsch (Lang)
Tief in seinem Innern wusste der Pianist Clemens Christian Poetzsch schon immer, was Musik für ihn bedeutete: Freiheit. Freiheit zu improvisieren; Freiheit, neue Klangwelten zu erschaffen; Freiheit, seinem Instinkt zu folgen, wohin der ihn auch führen möge. Schon seine in Zusammenarbeit mit verschiedenen Musikern entstandenen Veröffentlichungen und sein Solo-Debütalbum (People & Places, 2016) zeichneten ihn dabei als ein besonderes Talent aus. Auf seinem neuem Album jedoch, Remember Tomorrow, wird er der Rolle des modernen Komponisten endgültig gerecht und lässt der gesamten Bandbreite seiner musikalischen Fähigkeiten freien Lauf – und das mit erstaunlichem Ergebnis.
Während seiner Kindheit in Dresden erhielt Poetzsch seine ersten Klavierstunden von seinem Großvater, einem Opernsänger, und tauchte sofort mit Haut und Haaren ein in die Welten Bachs, Schuberts und Clementis. Mit zehn Jahren dann, ein Geburtstagsgeschenk seines Vaters: ein Notenbuch mit Frank-Sinatra-Standards, das ihm die Ohren zu umfangreicheren musikalischen Möglichkeiten öffnete. Schon bald spielte Poetzsch in der Bar im Nachbarhaus, improvisierte, warf Songstrukturen immer wieder ganz bewusst über den Haufen.
Prägende Erfahrungen wie diese begleiteten Poetzsch während seiner gesamten klassischen Musikausbildung an der Hochschule für Musik in Dresden. Während seines Klavier- und Kompositionsstudiums verbrachte er seine Freizeit damit, in Jazz- und freien Improvisations-Bands mit Freunden und Kollegen zu spielen. Er hatte Auftritte, ging auf Tour, entdeckte die elektronische Musik und saugte alles Wissen auf wie ein Schwamm. „Ich spiele total gerne Bach und all die Großen“, sagt er, „aber ich habe von Anfang an einfach gerne selbst Musik geschrieben und meine eigenen Songs gemacht. Im Orchester oder in Big Bands zu spielen, hat mich nie wirklich interessiert.“
Und so geriet, was als pures Vergnügen begonnen hatte und als das Bedürfnis, „Umgebungen ausfindig zu machen, in denen ich mich selbst überraschen kann“, zu einem immer größer werdenden Einfluss auf seine Musik. „Einen echten Plan gab es nie“, erklärt Poetzsch, „aber mir wurde klar, dass, wann immer ich die Notenblätter beiseitelegte und nach etwas Eigenem suchte, daraus meine eigene Klangsprache erwuchs, und dass sich daraus meine musikalische Stimme und mein eigener Kompositionsstil erst richtig entwickelten.“ So wurden aus Songskizzen allmählich immer rundere Ideen, und selbst bei der Zusammenstellung seines Debütalbums – einer wunderschönen, eleganten Sammlung zarter Klavierstücke – schmiedete er gleichzeitig schon Pläne, seine Soundpalette zu erweitern und sich von den Begrenzungen seines selbstgewählten Instruments zu lösen.
Das Ergebnis ist Remember Tomorrow, eine umfassende Sammlung von dreizehn Songs, die jeweils wie eine eigene und in sich abgeschlossene Welt für sich stehen – „ein Haus mit dreizehn Zimmern – jede Komposition ist wie ein kleines Zimmer“, wie Poetzsch es ausdrückt. Auf dem Album beschäftigt er sich mit musikalischen Flashbacks und Déjà-vu-Erlebnissen mit vertrauten Menschen und Orten. Sein Ziel war es dabei, „diese kurzen Momente in bestimmten Situationen, in denen man sich ganz plötzlich an etwas erinnert fühlt“ zu dekonstruieren. Diese Momente „kennt jeder, sie begleiten einen durchs Leben und haben deshalb einen gewissen Einfluss auf deine Zukunft, auf dein Verhalten, darauf, wie du mit Leuten sprichst oder wie du die Dinge siehst.“
Dieses Gefühl für die sich wiederholende Geschichte findet man bei Poetzsch sehr stark ausgeprägt; so weckt etwa der Besuch eines alten Supermarktes in der Nachbarschaft Erinnerungen an vergessen geglaubte Gerüche und Gefühle. Für Poetzsch sei es keine Seltenheit, erklärt er, dass er „beim Betreten eines Raums oder im Gespräch mit jemandem plötzlich denke: ‚Oh, das kommt mir irgendwie bekannt vor.‘“ Auch Musik kann Erinnerungen wecken oder Bruchstücke von Erlebtem wieder ins Gedächtnis rufen, und so ist Remember Tomorrow ein Versuch, in all dem einen Sinn zu finden und die Kluft zwischen dem Gestern und dem Morgen zu überbrücken. Um das zu erreichen, hat Poetzsch den Schritt auf neues Terrain gewagt, hat neue Elemente und Instrumente in seine Kompositionen mit einfließen lassen und seinen Ideen freien Lauf gelassen.
„Ich habe mein letztes Album mit einem sehr puristischen Klavierstück enden lassen, aber in dieser neuen Welt, in der ich viel mit Klangbearbeitung und elektronischen Elementen arbeite, wollte ich es so bunt wie möglich haben“, sagt Poetzsch. Im Zentrum seines Schaffens standen schon immer die Improvisation, das Aufbauen auf Fragmente einer Melodie oder einer bestimmten Stimmung. Mit Remember Tomorrow aber geht er noch einen Schritt weiter, beginnt ein Stück zuweilen mit einem elektronischen Element oder Sample und lädt Andere dazu ein, ihre eigenen Ideen daran auszuprobieren.
„Manches wurde aus einer Improvisation heraus geschrieben, anderes nicht – einen wirklichen Plan gab es nicht“, erklärt Poetzsch. Er ließ sich dabei auch von seinen Mitmusikern inspirieren, stand in engem Austausch mit ihnen, nutzte sie als Quelle für Ideen oder Stimmungen. Es ist viel Kontrabass auf Remember Tomorrow zu hören, und die beiden Musiker, mit denen er arbeitete – einer aus der zeitgenössischen Klassik, der andere eher aus der Free-Jazz/Improvisations-Szene – wurden angehalten, die Atmosphäre mit zu prägen und eigene Ideen dazu beizusteuern.
So wurde der Satz „Wir probieren einfach mal aus!“ zu einer Art Studio-Mantra, indem bestimmte Passagen in unterschiedlichen Tempi oder in einer anderen Tonart gespielt wurden, nur um zu sehen, welche Wirkung das hatte. Neil Youngs Filmmusik für Jim Jarmuschs als Schwarz-Weiß-Film gedrehten psychodelischen Western Dead Man war dabei von großem Einfluss: Poetzsch war es ein Anliegen, deren wie eine düstere Vorahnung wirkende Atmosphäre zu reproduzieren. Er setzte dazu elektronische Drones und simple Riffs ein. „Versuch so zu spielen, dass es nicht wie ein Kontrabass klingt!“, lauteten seine Anweisungen für das aus zwei Noten bestehende Leitmotiv in ‚Rufe‘, das mit seinen beunruhigenden Klängen an das gequälte, durch die Tiefen der Nacht hallende Heulen eines Nebelhorns erinnert.
Etwas friedvoller wirken da die Melancholie, die sich durch ‚Zur Nacht‘ zieht, mit klagender Bratsche und simplen, dunklen Klaviertönen, die Bilder der Abenddämmerung vor dem inneren Auge entstehen lassen, sowie das Stück ‚Schimmer‘, eine reine Klavier-Improvisation, die beim Zuhörer ein tiefes Gefühl der Ruhe hervorruft. Am eindrucksvollsten ist wohl ‚Zwei Stimmen‘, eine Komposition, die den Zuhörer mitnimmt auf einen nervös-angespannten Angstritt und die das bisher experimentellste Stück in Poetzschs Laufbahn darstellt. Kreissägen-ähnliche Bratschen tauchen in kalt knisternde elektronische Soundscapes ein und treten wieder daraus hervor, ein Wechselspiel aus Kakophonien des Schreckens und Phasen nahezu vollkommener Stille. Das Stück ist ein mutiges Statement, das so ganz anders ist als Poetzschs sonstige Werke – und als die meisten Songs auf Remember Tomorrow –, und das sich dennoch behauptet als krasses und beeindruckendes Zeugnis für die Kraft moderner Komposition.
An anderen Stellen blitzen Licht- und Hoffnungsschimmer auf. Der futuristische Neonglanz Tokios beispielsweise, an den sich Pötzsch aus Kindheitstagen erinnert, diente ihm als Inspiration für das sanfte Auf und Ab von ‚Tokio Nights‘, das mit seinem weißen Rauschen das enervierende Wesen einer gigantischen Metropole widerspiegelt. Die Umkehrung dieser Themen findet man in ‚Neon Leipzig‘, einer Art Nachsinnen auf die Schönheit alter Neonlettern und- bilder, die an vergangene Zeiten der Stadt erinnern. Hier hallen geisterhafte Echos durch das Stück, und Schatten vergangener Leben huschen zwischen lebhaften Klavierlinien hin und her.
Eine solch starke Abweichung von People & Places fiel Poetzsch nicht leicht, aber er sieht es als eine natürliche Entwicklung an. Für ihn war es auch eine Herausforderung, und somit etwas seiner Meinung nach Unverzichtbares für jede künstlerische Entwicklung. „Ich finde es inspirierend, Musik für ein Instrument zu schreiben, für das ich noch nie geschrieben habe. Es ist unheimlich interessant, weil ich permanent dazulerne“, erklärt er. „Am wohlsten fühle ich mich am Klavier, weil ich dieses Instrument einfach so gut kenne und mir das Komponieren deshalb leicht fällt. Beim Kontrabass hingegen muss ich wieder ganz neu und von vorne anfangen: Welche Noten kann man auf diesem Instrument spielen, wie kann ich welchen Klang damit erzeugen, und wie kann ich das notieren? Das tut mir gut, denn es ist sehr inspirierend und führt dazu, dass ich mich danach mit ganz neuen Ideen wieder ans Klavier setze.“
Sein Ansatz, sowohl beim Experimentieren als auch bei der Zusammenarbeit mit Kollegen, besteht darin, einfach einzutauchen und auszuprobieren, dabei Neues zu entdecken und zu schauen, was funktioniert und was nicht. Genauso verfährt er mit elektronischen Sounds und Samples. Und ungeachtet dessen, dass er einräumt, kein Experte zu sein, sind die kargen, monochromen Klanglandschaften und Stimmungen, die er erzeugt, weitaus wertvoller, als es alle perfektionierten technischen Fähigkeiten sein könnten. Im Grunde läuft es auch hier wieder auf die Freiheit hinaus: die Freiheit, der eigenen Kreativität keine Grenzen zu setzen und mit vorgefassten Meinungen und Vorurteilen bezüglich Genres oder Instrumenten ganz bewusst zu brechen.
„Musik ist eine Kunstform, die keine Grenzen kennt“, erläutert Poetzsch, „aber in Deutschland ist es mit der Musik so wie mit der aktuellen politischen Lage: Die Leute denken in Kategorien, in Schubladen, und nur in Schwarz-Weiß. Ich will die Dinge ein bisschen aufmischen; mir gefällt die Idee, verschiedene Elemente ganz bewusst aufeinanderprallen zu lassen und einfach mal zu schauen, was passiert.“
Und so ist Remember Tomorrow sein erster Schritt weg von der gesetzt-seriösen Welt der Konzerthallen und einer klassisch-harmonischen Klangsprache hin zu einer zeitgenössischeren und vor allem individuelleren Form der Musik. „Mein Ziel war es, als Komponist den nächsten Schritt zu tun und meine Musik durch Elektronik und Klavier sprechen zu lassen. Diese Sprache spreche ich am besten.“
Poetzsch hat alles, was er kannte – angefangen bei jenen Sinatra-Songs, über Bach, bis hin zu zeitgenössischeren Einflüssen wie Ryuichi Sakamoto, Aphex Twin und Winged Victory For The Sullen –, zusammengefasst und in einem ganz besonderen Album zusammenfließen lassen. Einem Album, das Beleg dafür ist, wie es klingen kann, wenn man sich nicht um Konventionen schert und sich auf der Suche nach dem richtigen Weg von seiner Intuition leiten lässt.
by Derek Robertson